kurzetexte Leben

Am Fenster

Wolkenverhangener Himmel über einem Fluss © K. Schwahlen 2023

Hier ist sie nun also. Die Regionalbahn rattert vorbei,die Wolken ziehen am Himmel entlang, an der Ampel kreuzen Radfahrende und Autos. Es ist still. Selbst der Wind, der das Wasser kräuselt, gibt kaum ein Geräusch von sich. Sie schaut über die Häuser, die Straße, die Schienen, den kleinen Yachthafen. Hier ist sie nun also. Zum ersten Mal seit 27 Jahren allein. In einer fremden Stadt. Ohne Mann, ohne Hund, ohne Freundin. Allein mit sich und ihren Gedanken. Was macht sie hier? In diesem nichtssagenden Apartment. Zugegeben, es ist hell und aufgeräumt, großzügig aufgeteilt und minimalistisch eingerichtet. Es ist alles da, vom Fernseher bis zur Kuchengabel, vom Fön bis zum Salatsieb, von der Wärmflasche bis zum Toaster. Alles bleibt stumm.

Wieder rattert eine Bahn vorbei, in die entgegengesetzte Richtung. Dorthin, wo die großen Schiffe ablegen. Würde sie mitfahren wollen? Hinaus aus ihrem Leben. Hinein in die Welt. Neuland entdecken. Neue Länder entdecken. Neue Menschen. Andere Menschen.

Mit ihren Menschen ist sie schon so lange zusammen. Zu lange? Sie weiß es nicht. Den Mann kennt sie länger als ihr halbes Leben. Er ist ihr so vertraut wie kein anderer Mensch. Sie erinnert sich an ihre erste Begegnung. An seine feste Haut, die an den Schulterblättern ein bisschen zu groß ist. Fast wie einem jungen Hund. Sie fühlt seine Bartstoppeln am Morgen nach einer durchfeierten Nacht. Sein Geruch, wenn er mal wieder den Oldtimer repariert hat: eine Mischung nach Metall, Motoröl und Schweiß. Sein stolzes Grinsen, weil er es geschafft hat. Sein verwegenes Lachen, wenn er von der Motorradtour nach Hause kommt und den Helm abnimmt, um sie küssen.

Der Wind nimmt zu, das Wolkenweiß wird zu schmutzigem Grau. Regen stürzt auf die Straße, schießt an den Dachziegeln vorbei, ertränkt die Herbstblätter. Es gießt wie aus Eimern. Wie damals, in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub. Mit der Kastenente auf dem Weg nach Spanien geraten sie in der Ardeche in ein Unwetter, wie sie es nie vorher erlebt hat. In Minutenschnelle sind die Straßen überflutet, Bäume brechen unter den Wassermassen zusammen. Unter der Brücke stoppen sie ihr Auto, fühlen sich jung und unbesiegbar. Fasziniert sehen sie der Naturgewalt zu, eng aneinander gekuschelt, teilen sich eine Zigarette. Sie haben ihr ganzes Leben noch vor sich.

Sie fröstelt, zieht die Strickjacke enger um sich und sieht dem Pärchen nach, das den Gehweg entlang hastet. Traute Zweisamkeit in Eile. So wie sie und Benno. Gerade mal zwei Monate wartet er, um ihr einen Antrag zu machen. Im Urlaub. Überraschend und unspektakulär. Das Unwetter ist vorbei, die Sonne erwärmt die Felsen, auf denen sie Picknick am Fluss machen, sie schneidet die Salami auf. Seine dicken dunklen Locken hängen ihm noch nass in die Stirn:, als er sie ungestüm küsst: „Willst du mich heiraten?“ Sie sind so verliebt. Dass die Liebe erst später kommen wird, weiß sie noch nicht. „Na klar, warum nicht?“

Sie nestelt die zerdrückte Zigarettenpackung aus der Hosentasche. Camel ohne. Seine Lieblingsmarke.

Wie ein langer steter Fluss ist ihr Leben verlaufen. Kopfschüttelnd lässt sie das Feuerzeug aufschnappen. Was für ein Klischee. Vorbeigerauscht ist es, das Leben. Eben noch ist sie jung und unternehmungslustig mit dem Glauben „Hallo Welt, ich komme.“ Das Einzige, was kommt, sind die Kinder. Unbedacht gewollt. Heiß geliebt. Ungeahnt anstrengend.

Sie bleibt als Individuum für Jahre auf der Strecke, während Benno weitergeht. Trotzdem sind sie meist ein gutes Paar gewesen. Haben Träume gehabt und gelebt. Haben sich geliebt und umsorgt. Betrogen und verletzt. Getrennt und wiedergefunden.

Sie nimmt einen tiefen Zug, der sie benommen macht. Immer noch sieht sie in seinem ausgemergelten Körper den jungen Mann von früher. Seine geschlossenen Augen haben dasselbe Braun wie immer, seine Lachfalten sind tiefer geworden, seine Lippen schmaler. Seine Küsse sind nicht mehr zart und fordernd. Sind gar nicht mehr. Er braucht seine Kraft zum Atmen.

Bis zum Schluss war sie bei ihm, hat seine Hände gehalten, war ihm nah. Hat ihm die Lippen befeuchtet, durch das verschwitzte schüttere Haar gestrichen. War wie immer der Felsen in der Brandung.

Die Sonne ist verschwunden, die letzte Bahn des Abends steht auf dem Gleis, die Fischkutter sind längst vertäut. Sie drückt die Zigarette aus und zieht die Vorhänge zu. Nichts bleibt, wie es ist. Morgen wird auch sie gehen. Allein.